Leseprobe – Prolog

Jabe Malter und seine Männer erreichten Dundon im Morgengrauen, gerade als sich der Schleier der Nacht endgültig zurückzog und nicht länger verbarg, dass sie zu spät kamen. Verkohlte, wie Skelettfinger in die Höhe ragende Balken hießen sie an der Stelle willkommen, wo am Vortag noch ein Dorf gestanden war. Jabe trat seinem Pferd in die Flanken.

„Loreena! Loreena!“ Sein Ruf gellte hinweg über verbranntes Gras. Körper lagen am Boden verstreut wie von einem Karren verlorene Mehlsäcke. Verrußte Lumpen flatterten träge im Wind und zeigten beinahe verstohlen, was darunter lag. Der Geruch des Todes hing schwer in der Luft.

„Loreena!“, schrie er und sprang ab.

„Bei Nefem!“, keuchte Borros und zeichnete mit dem Daumen einen Kreis auf die Brust. Laycee schaffte es rechtzeitig aus dem Sattel, ehe er sich übergab.

Jabe lief los. Das Knirschen von Stiefeln auf Asche betonte die Unwirklichkeit des Anblicks: Das konnte, das durfte nicht sein!

Weiterlesen

Leseprobe – Kapitel 1

Nebelschwaden ziehen durch unsere Leben.

Sie haben nichts gemein mit den späten Herbstnebeln, die uns frösteln lassen, oder den Sommernebeln, die uns in den Morgenstunden noch vor der brütenden Tageshitze schützen. Auch sehen können wir sie nicht, denn es sind farblose Schwaden, die an uns vorüberziehen, durch uns hindurch. Es sind die Nebel des Vergessens; ein gleichmäßiger Fluss, dem wir willenlos ausgesetzt sind; der, sowie er unseren Geist berührt, rastlos weiterzieht, doch immer und immer wiederkehrt. Stück für Stück nimmt er dabei einen Teil dessen, was uns zu dem gemacht hat, wer wir sind, mit sich. Trotzdem sind wir immer noch wir selbst; wir trauern nicht, führen unser Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Denn es ist nichts geschehen.

Der Nebel zieht durch die Zeit, reißt Wissen und Erfahrung mit sich und verschleiert zugleich das, was wir Wahrheit nennen. Je weiter wir zurückblicken, desto unwirklicher erscheint uns unsere eigene Vergangenheit; beinahe so wie Wein, der nicht mehr nach Wein schmeckt, wenn man ihn verwässert. Denn was das Wasser für den Wein ist, sind die Nebelschwaden für die Zeit: Was heute eine Gegebenheit ist, wird morgen zum Gerücht und gerät übermorgen in Vergessenheit – oder wird zur Legende.

Weiterlesen

Leseprobe – Kapitel 2

Eniak lag auf seinem Strohbett und beobachtete den Himmel durch das offene Fenster. Langsam wandelte sich das Blau des Tages in ein Abendrot und streifte dabei allerlei Schattierungen von Violett. Eniaks Blick blieb derselbe, selbst als es plötzlich an seiner Luke klopfte.

„Eniak, mach auf! Ich möchte mit dir reden.“ Die Stimme seiner Mutter klang fest; offenbar hatte sie sich wieder beruhigt.

„Ich will allein sein!“, rief er zurück.

Sie wiederholte ihre Forderung, doch Eniak reagierte nicht darauf. Schließlich gab sie auf.

Längst hatte er genug von den Unstimmigkeiten seiner Eltern – und von ihren Lügen. Glaubten sie, er wüsste nicht, dass sie etwas vor ihm verheimlichten? Immerzu wichen sie seinen Fragen aus oder begannen, in seiner Gegenwart zu flüstern; das aber ertrug er nicht länger. Warum hatte Vater sie einst verlassen, und warum hasste Mutter diesen Alwart Lisken so sehr? Wer war dieser Mann, den Vater angesehen hatte, als stünde ein Ghul vor ihm?

Lange lag er da, unbewegt, nur seine Gedanken drehten und drehten sich. Die Versuche, sie in eine andere Richtung zu führen, scheiterten wiederholt und steigerten mit jedem Mal seine Wut, die sich tiefer und tiefer in seinen Bauch eingrub.

Bis ihm schlagartig die Stille im Haus bewusst wurde.

Weiterlesen